Kapitel I: Gefangen (3)

Vor urlanger Zeit als zahlreiche hohe Völker mitten in ihrer kulturellen Blüte standen, galt die Kunst des Labyrinth-Baus als eine der höchstangehsehendsten Wissenschaften.
Den Weg zu Verschleiern, den Geist des Suchenden zu täuschen und so die Orientierung  vollkommen zu verwirren, war das höchste und gefährlichste  Spiel, das die Weisen jener besseren Zeit miteinander im Wettstreit spielten. So wurden die Irrgärten dieser alten Meister immer komplexer, geheimnisvoller und undurchdringlicher. Nur noch die besten Spurensucher wagten es, sich den Gangsystemen zu stellen, und viele dieser Helden bezahlten ihren Mut mit dem Tod. Hastige oder ungeübte Verliesbauer verwandten Fallen und geheime Wege, verschiebbare Wände und unsichtbare Mordgruben, um ihre Schöpfungen unbezwingbar zu gestalten. Solche Kreationen nannte man im hohen Kreise der besten Labyrinthingenieure abfällig „Verliese“, denn unter ihnen waren solche rohen Maßnahmen verpönt. Allein die Form, die Vielfalt, die Systematik der Wege waren erlaubte Mittel. Kurz gesagt: für einen Labyrinthmeister kam es auf das Muster an.

labyrinth

Und so arbeiteten sie für die Mächtigen jener grossen Zeit. Sie verbargen Schätze, Burgen und auch ganze Städte im Gewirr der Mauern und Kammern. Hochangesehen waren sie, die Labyrinthmeister, und ihr Schweigen war legendär; diente es doch vor allem dem Selbstschutz, denn nur durch absolute Loyalität waren die alten Fürsten dazu zu bewegen, das ewige Schweigen um die Geheimnisse ihrer Verteidigungsanlagen und Verstecke nicht mit dem Tod zu besiegeln.

Meister aller Gänge und Kammern, höchstes Genie der Labyrinthe, weise jenseits aller Weisheit – das war Lekamon.
Unzählige Irrgärten hatte er geschaffen, jeder neue trickreicher als der vorherige. Es hieß, dass wenn man alle seine Schöpfungen, all seine Labyrinthe, anhand ihres Lösungsweges auseinander falten und aneinander hängen würde, so entstände ein Weg so lang, dass er um die äußere Haut des Universum herum reichen müsste.

Dieser Ausspruch kam nach einiger Zeit dem großen stellaren und nebenbei recht eigensinnigen Gott Taurus zu Ohren. Taurus hatte sich schon seit einiger Zeit als Baumeister versucht und fühlte sich durch diese hochnäsige Prahlerei überaus herausgefordert. Schnell wurde in seinem rastlosen Geist der Wunsch nach einer Machtprobe wach, zumal er von diversen anderen Gottheiten, von denen wir namentlich an dieser Stelle nicht reden möchten, noch zusätzlich angestachelt wurde. Denn man sah es sehr ungern, dass in irgendeiner Kunst ein Sterblicher der höchste Meister sein sollte. Und das Labyrinthbauen war, wie bereits erwähnt, nicht  irgendeine Kunst, sondern die Spitze des intellektuellen Wettstreits. Einen Engel als höchsten Meister der Wege und Verwirrung hätte man vielleicht noch geduldet, aber ein Mensch war absolut inakzeptabel.

Also überbrachte man dem weisen Lekamon die Botschaft, dass ihn der göttliche Taurus persönlich zu einem Wettstreit um den Titel des größten Baumeisters herausfordere. Die Regeln legte man folgendermaßen fest: die beiden Meister hätten einhundert Jahre Zeit, um ihre Labyrinth-Kreation fertig zu stellen, wobei man dem sterblichen Lekamon drei leibhaftige Halbgötter an die Seite stellte, damit nicht behauptet werden könne, Taurus hätte aufgrund seiner göttlichen Macht einen unfairen Vorteil.
Nah dem Ablauf der einhundert Jahre, sollten die beiden Baumeister Taurus und Lekamon jeweils im Zentrum des Labyrinths ihres Widersachers ausgesetzt werden, mit dem Ziel, schnellstmöglich den Ausgang aus der Schöpfung des Gegners zu finden. Derjenige, welcher zuerst den Weg in die Freiheit fände, wäre natürlich der Sieger des Wettstreits.
Als seinerzeit die Herausforderung bekannt wurde, befand man allerorts den letzten Teil des Wettstreits als unannehmbar, da man davon ausgehen musste, dass Taurus sich ohne Mühe, dank seiner machtvollen, göttlichen Körperkraft, einmal quer durch Lekamons Labyrinth wälzen würde, während der sterbliche Baumeister auf seinen schwachen Leib angewiesen war, um den Tücken von Taurus Verlies zu entgehen. Da zudem der Labyrinthmeister schon lange nicht mehr in der Blüte seiner Jahre stand, riet man allerorten, dass er die  Herausforderung ablehnen würde.

Umso größer war die Verwunderung, als bekannt wurde, dass der weise Lekamon den Wettkampf tatsächlich bestreiten wollte. Man war sich einig, dass der edle Mann in den sicheren Tod gehen würde. Doch  die meisten der Lästerer verstummten schon, als sie hörten, welche drei Halbgötter sich der hohe Baumeister als Hilfe erkoren hatte:

Alain, den Herren der Spiegel,

Taramar, den Meister der Schatten und

Miranja, die dunkle, ewig brütende Bringerin der Alpträume.

Viele Labyrinthmeister senkten voll Ehrfurcht ihr Haupt. Und manch einer ahnte, dass Lekamon mit der Hilfe dieser drei mächtigen Assistenten das Labyrinth der Labyrinthe erschaffen könnte. Doch würde das reichen um gegen Taurus zu bestehen?
Die Arbeiten begannen und es zeigte sich, dass Taurus Werk ganz seinem göttlichen Geschlecht entsprach. Denn er baute ein Labyrinth, so riesig, wie eine ganze Weltkugel.  Von einer engen Zentralkammer im Mittelpunkt dieses Planeten führten verschlungene , fallenreiche Pfade durch rotglühende Lavafelder, durch lichtlose unterirdische Ozeane, durch glitzernde, verführerische Edelsteindome hinauf bis zur Oberfläche.
Nun fand der Irrweg auf der Oberfläche noch lange kein Ende. Mauer um Mauer verstellte Taurus, dem Suchenden den Weg. Nur von den höchsten Punkten einer Welt aus lässt sich bekanntlich ein Aetherschiff in den schwarzen Weltenraum schicken, also mussten diese höchsten Punkte das Ziel von Taurus Wettbewerber sein, wenn es zum Wettkampf käme. Diese Punkte waren auf dieser Welt jedoch nicht etwa Berge, sondern titanische fliegende Plattformen, ganzen Kontinenten gleich, die wie starre Wolken über der Oberfläche schwebten. Nur über geheimste Portale und Treppen konnte man hoffen, auf diese fliegenden Wunder zu gelangen um damit die Labyrinthwelt endgültig zu bezwingen. Natürlich war es inzwischen weniger eine Labyrinthwelt, sondern vielmehr eine Verlieswelt.
Es sah also so aus, als würde der Gott den Sterblichen allein mit der Grösse seiner Kreation niederwerfen, denn wie sollte der alte Lekamon diese Welt jemals bezwingen?

Indes, die Frage wurde niemals beantwortet.
Während Taurus die volle Zeit zur Fertigstellung der Verlieswelt benötigte, kam Lekamon bereits nach einem Jahr zu einem Abschluss an den Arbeiten an seinem Labyrinth. Den Rest der Frist nutzte der Baumeister, um sich einem geruhsamen Lebensabend hinzugeben.
Einen Tag vor Ablauf der einhundert Jahre stellte Taurus seine Verlieswelt fertig. Am Abend des selben Tages, kurz vor Sonnenuntergang starb Lekamon einen schmerzlosen und ruhigen Tod.

Nach einem Anfall von schrecklicher, göttlicher Raserei, der ein gutes Jahr währte, und drei blühende Planeten in Asteroidenfelder verwandelte, beschloss Taurus, das Labyrinth des Lekamon freiwillig zu betreten, um seinen Mut und die Überlegenheit der göttlichen Rassen unter Beweis zu stellen. Der Eingang in den Irrgarten lag auf der Lekamons Heimatwelt in einem winzigen Schrein, der kaum groß genug war, um Taurus machtvolle körperliche Form aufzunehmen, geschweige denn ein komplexes Labyrinth zu verbergen.
Ohne Zaudern zerbrach der Gott das Siegel und durchschritt das Portal in Lekamons Meisterwerk.

An die 3000 Jahre warteten die Götter auf Taurus Rückkehr, dann erklärten sie ihn für tot. Alle Beschäftigung mit Mustern im allgemeinen und die Kunde vom Labyrinthbau im speziellen wurden den sterblichen und unsterblichen Rassen im Universum per göttlichem Interdikt verboten. Niemand wagte es, dem Verschollenen zu folgen und so kam es, dass der wilde Taurus nach und nach in Vergessenheit geriet. Genau wie auch der weise Lekamon und überhaupt alle Labyrinthmeister. Vor allem aber … vergaß man die Verlieswelt.

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